34. Kapitel
Du musst dich nicht schuldig fühlen, Highlander. Kein Mensch und kein Vampir kann etwas für seine Gefühle.«
Patrick warf seinem Freund einen gereizten Blick zu und schaute dann wieder zu Violet und Angelica hin, die ein kleines Konzert für das Dutzend menschlicher Gäste gaben, die Angelica zu sich eingeladen hatte. Nachdem Violet gestern die Hütte verlassen hatte, war sie zunächst einmal zu Angelica und Mikhail gefahren, um dort den Tag zu verbringen, während Patrick und Ismail besprachen, was weiter zu tun war.
Man wollte Violet erlauben, ihren Plan durchzuführen, und die kleine Soiree heute Abend diente als Signal an die Wahren Vampire, dass Violet vergeben worden war.
Ihm gefiel das alles nicht.
Ohne auf Ismails vorherigen Kommentar einzugehen, sagte Patrick: »Und du bist sicher, dass sonst niemand den Vorfall im Billardzimmer mitbekommen hat?«
Ismail zog die Brauen hoch bei diesem offensichtlichen Themenwechsel, beantwortete aber Patricks Frage. »Ja, ich bin sicher. Die Einzigen, die davon wissen, sind die vier Wachtposten, die auf Violet aufgepasst haben, Daniel, Mikhail, die Prinzessin und wir beide.«
Patrick und Ismail hatten die Gedanken der vier Posten gelesen, um sicherzustellen, dass sie nicht zu Daniels Gruppe gehörten. Patrick hatte sie unter Eid zur Geheimhaltung verpflichtet und war sicher, dass die loyalen Männer ihren Clan nicht verraten würden.
»Und Daniel selbst glaubt die Scharade ebenfalls, du hast ja selbst gestern Abend mit ihm im Club geredet. Er ist überzeugt davon, dass wir Violet wieder in unserer Mitte aufgenommen haben.« Ismail hatte recht, das wusste Patrick. Daniel glaubte nun, Violet hätte ihn und Ismail davon überzeugt, dass sie nur unter der irrigen Annahme gehandelt hatte, in Gefahr zu sein, und sie habe das Messer in Notwehr nach ihm geworfen.
Patrick verzog bei dem Gedanken an Daniels kaum verhohlene Genugtuung das Gesicht. Der Kerl hielt ihn für einen gutgläubigen Trottel, so viel war klar. Um den Schein aufrechtzuerhalten, hatte Patrick auch Daniel schwören lassen, nichts von dem Vorfall zu verraten.
Applaus ertönte, als Angelicas und Violets Musikstück zu Ende ging. Weiß behandschuhte Kellner gingen mit Silbertabletts herum und servierten Champagner. Die Musikerinnen tauschten sich leise flüsternd aus und begannen erneut zu spielen. Patrick, der beobachtete, mit welcher Zuneigung sich die beiden anlächelten, konnte fast glauben, dass nichts passiert war, dass der Vorfall auf dem Ball, die Gefangenschaft von Violet, dass das alles nur ein böser Traum gewesen sei und dort vorne seine Violet stand und engelsgleich wie immer auf ihrer Geige spielte.
»Das Schicksal hat sie zu dir geführt, mein Freund«, erklärte Ismail, »die Gründe dafür sind unwichtig. Es ist keine Schande, eine gute Frau zu lieben.«
»Nicht jetzt, Ismail«, knurrte Patrick. Er wollte nicht an sie denken, wollte nicht fühlen, was er fühlte, nie wieder. Warum ließ ihn der Osmane nicht einfach in Ruhe?
»Sie liebt dich, Highlander. Keiner von euch wird Frieden finden, ehe du dir das nicht eingestehst.«
Huzur. Sein bester Freund versprühte mal wieder Mystizismen. Patrick versuchte, Ohr und Herz davor zu verschließen. Sein Blick ruhte auf Violet in ihrem schlichten lila Tageskleid, die Geige unterm Kinn. Sie war ganz in ihre Musik versunken, und er... er spürte ihren Sog und wehrte sich dagegen. Er liebte sie noch immer, und das machte ihn zum größten Narren, den es gab.
Er hatte, ebenso wie die anderen, in ihren Geist geblickt. Und wie Ismail und Angelica glaubte auch er, dass man sie nicht wirklich verurteilen konnte. Jeder, aber auch jeder Einzelne von ihnen hätte ebenso gehandelt wie sie. Ihre Gefühle waren verständlich. Nein, sie würden sie nicht für ihr Handeln verurteilen, das wusste er jetzt. Sie war keine Jägerin. Sie war eine Frau, die Schlimmes durchgemacht hatte und stärker daraus hervorgegangen war als zuvor.
Wenn überhaupt, dann liebte Patrick sie jetzt noch mehr als zuvor. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihn betrogen hatte. Selbst wenn sie einen guten Grund dafür gehabt hatte. Logik hatte nichts damit zu tun. Er war ein Werkzeug für sie gewesen, ein Mittel zum Zweck.
Sie liebte ihn nicht.
»Sie liebt mich nicht. Sie hat mich ausgetrickst.«
»Du bist ein Dickschädel«, flüsterte Ismail, der das Konzert nicht stören wollte, zornig. »Das ist es also, was dir zu schaffen macht? Dein verletzter Stolz? Weil du nicht über alles Bescheid gewusst hast, was vorgeht? Davon lässt du dich blind machen für das, was dein Herz sieht?«
Der Vorwurf traf sein Ziel; Patrick zuckte innerlich zusammen. Ja, sein Stolz war verletzt worden, diese Frau hatte ihn blind gemacht. Er, der sich etwas auf seinen scharfen Verstand einbildete, hatte sich von ihrer Schönheit, ihrer vermeintlichen Reinheit blenden lassen...
War alles nur Schauspielerei gewesen? Die Küsse Berechnung, nicht mehr? Er konnte es nicht ganz ausschließen. Wie sollte er ihr je wieder vertrauen?
»Wir haben beide ihre Gedanken gelesen, Türke. Was hast du gesehen, was mir entgangen ist?«
Ismail legte Patrick die Hand auf die Schulter und blickte seinen Freund mitfühlend an. Das Musikstück endete, und die Zuhörer applaudierten.
»Ich sah kalb-i-muztarib, eine gequälte Seele. Aber mein Herz sah auch eine verwandte Seele.«
Patrick verstand nicht, was sein Freund meinte, verzichtete aber darauf, ihn um eine Erklärung zu bitten. Die Gäste erhoben sich. Es wurde spät, und er hatte noch etwas zu erledigen.
Er trat vor, als Angelica und Violet inmitten einer Traube bewundernder Gäste auf ihn zukamen.
»Einfach atemberaubend, wie immer«, sagte er lächelnd zu den beiden. Er war froh zu sehen, wie entspannt Angelica wirkte. Ihr Haus wurde jetzt, da sie wussten, dass Daniel einen Anschlag plante, noch schärfer bewacht. Die loyalen Clansleute hatten sich als Dienstboten und Nachbarn verkleidet, um die Wahren Vampire nicht auf die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen aufmerksam zu machen. Dennoch war Angelica beunruhigt, wie Patrick wusste. Sie war schwanger, und ihr Bedürfnis, ihr ungeborenes Kind zu beschützen, war verständlicherweise sehr stark.
»Danke, Patrick«, erwiderte Angelica lächelnd. Violet sah mit einem unlesbaren Ausdruck in seine Richtung. Was wohl in ihr vorging?
»Ich muss jetzt gehen. Darf ich Sie nach Hause bringen, Lady Violine?«, sagte er.
»Das wäre sehr freundlich«, nickte Violet und schenkte ihm ein nicht sehr überzeugendes Lächeln. »Ich hole nur rasch meinen Mantel.«
Erst eine Viertelstunde später gelang es Patrick, sie von den Gästen loszueisen. Der Herzog von Neville war besonders hartnäckig gewesen, er hatte Violet unbedingt selbst zum Zirkus zurückbringen wollen. Patrick war versucht gewesen, seinem Freund zu verraten, dass Violet nicht zum Zirkus zurückkehren würde, sondern zu ihm nach Hause, aber er hatte der Versuchung gerade noch widerstanden.
Die folgende Kutschfahrt war kurz und unbehaglich. Weder Violet noch Patrick sprachen ein Wort.
Was gab es auch zu sagen?
Violet folgte Patrick seufzend zu seinem Arbeitszimmer. Die stumme Kutschfahrt hatte sie aus der Fassung gebracht, und nun hatte er ihr auch noch befohlen, in sein Arbeitszimmer zu kommen.
Er war sachlich, nüchtern. Keine Spur von dem gütigen, zärtlichen Mann, den sie lieben gelernt hatte.
Patrick schloss die Tür und bedeutete ihr, sich zu setzen. Sie ging automatisch zu dem Sessel am Fenster, den sie als ihren zu betrachten begonnen hatte. Nervös nestelte sie an ihrem Kleid.
»Es gibt einiges, das du wissen solltest«, begann er, nachdem er sich, wie sie merkte, an seinen Schreibtisch gesetzt hatte. »Aber zuerst musst du mir sagen, was du alles über uns weißt.«
Mit ›uns‹ meinte er die Bluttrinker. Oder Vampire, korrigierte sie sich. Angelica hatte ihr heute früh beim Frühstück ein wenig über Vampire und über die Auserwählten erzählt und über sich und Alexander. Die Prinzessin und ihr Bruder hatten ihr außerdem versichert, dass sie verstehen konnten, was sie getan hatte, und sie noch immer gern hatten.
Sie hatten sogar versucht, sie davon zu überzeugen, dass sie nicht für ihre Tat verantwortlich sei, aber Violet war da anderer Ansicht, obwohl sie sich natürlich bei den Geschwistern für ihre Loyalität und Zuneigung bedankt hatte.
»Ich weiß nicht viel über deine Leute«, gestand Violet. »Und das, was ich weiß, habe ich von der Seherin und von Angelica erfahren.«
»Diese Seherin ist eine Zigeunerin, ja? Eine Hellsichtige?«, erkundigte sich Patrick.
Violet wusste nicht, was er mit ›hellsichtig‹ meinte, vermutete aber, dass es eine Bezeichnung für die besonderen Talente der Seherin war. »Ja, die Seherin ist eine Zigeunerin. Sie war wie eine Mutter für mich. Und sie wusste Dinge. Ich habe nie gefragt, woher. Sie hat mich gefunden, sie hat gewusst, wie sie mir helfen muss, und eines Tages hat sie gesagt, dass ich die Zigeuner verlassen und mit dem Zirkus Weiterreisen soll. Er würde mich zu Ismail fuhren, hat sie gesagt. Also bin ich gegangen und hierhergekommen.«
»Ich verstehe«, sagte Patrick. Violet wartete darauf, dass er weitersprach. Schaute er sie an? Hasste er sie immer noch so sehr?
»Du weißt bereits, dass wir Tierblut trinken und dass wir Gedanken lesen können«, sagte er nach einigem Schweigen. Violet folgte dem Klang seiner Stimme. Er war aufgestanden und durchquerte nun das Arbeitszimmer. »Wir sind stärker und schneller als Menschen, und wir leben mehrere hundert Jahre länger.« Es roch auf einmal nach Blut, und Violet hörte, wie er eine Flüssigkeit in ein Glas goss. Mehrere hundert Jahre länger, dachte sie schaudernd. Ihr wurde klar, wie wenig sie über diese Spezies wusste.
»Und wie alt bist du?«, fragte sie schüchtern.
»Fast sechshundert Jahre alt.«
Sechshundert Jahre. Wie viel hatte er in dieser Zeit von der Welt gesehen? Wie viele Frauen geliebt?
»Ich verstehe«, sagte sie leise.
Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, und der Blutgeruch wurde stärker. Seltsamerweise störte er sie nicht.
»Du beneidest uns vielleicht um unser langes Leben, aber glaub mir, es ist eher ein Fluch als ein Segen. Die meisten meiner Leute leiden unter einer Krankheit, die wir Schwermut nennen. Den Verlust der Leidenschaft. Wie die Menschen suchen wir uns etwas, das uns beschäftigt, das in unserem Leben einen zentralen Platz einnimmt - Politik, Kunst, Malerei oder Gärtnerei, was auch immer. Aber früher oder später wird uns alles schal, und wir verlieren die Freude daran. Nur jene mit der stärksten Psyche erreichen ihr fünfhundertstes Lebensjahr. Und das ist der Grund für unser zweites großes Problem.«
Violet versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, jahrhundertelang Geige zu spielen. Wann würde es aufhören, ihr Freude zu machen? Hatte Patrick dasselbe erlebt? Hatte auch er seine Passion verloren? Der Gedanke machte sie traurig.
»Was für ein Problem?«, fragte sie.
»Nun, Vampire und Menschen passen nicht zusammen. Ich meine damit, sie können keine Kinder miteinander zeugen.«
Ein Pfeil bohrte sich in Violets Herz. Sie konnte keine Kinder von Patrick bekommen? Aber wieso kümmerte sie das überhaupt? Beinahe hätte sie traurig aufgelacht. Es zerriss ihr das Herz, dass sie mit einem Mann, der sie hasste, keine Kinder haben konnte?
»Und warum ist das ein Problem?«, erkundigte sie sich.
»Weil wir erst mit fünfhundert Jahren zeugungsfähig werden. Und die meisten von uns haben sich zu dem Zeitpunkt bereits das Leben genommen.«
Violet wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte sich die Bluttrinker - oder Vampire - immer als stark, als unbesiegbar vorgestellt. Dabei waren sie eine fragile Spezies, ebenso fragil wie Menschen.
»Unsere Spezies stirbt aus«, fuhr Patrick sachlich fort. »Seit Jahrhunderten warten wir auf die Ankunft der Auserwählten, einer Spezies, die mit Vampiren Kinder zeugen kann, Kinder, die unsere Fähigkeiten besitzen, aber von der Blutlust befreit sind. Wesen, die sowohl mit Vampiren als auch mit Menschen Kinder zeugen können. Das Bindeglied, das uns alle wieder vereint.«
Violet begriff. »Und Prinzessin Belanow ist diese Auserwählte.«
»Ja. Und deshalb wollen diese sogenannten ›Wahren Vampire‹ ihren Tod. Sie ist unsere Zukunft, sie kann uns wieder vereinen, aber Daniel und seine Jünger haben andere Pläne. Sie streben die Weltherrschaft an. Die Unterdrückung der Menschheit und die Gewaltherrschaft der Vampire.« Patricks Stimme bebte vor Zorn. »Sie wollen einen Krieg entfachen, der Jahrhunderte dauern wird. Aber wir werden sie aufhalten.«
Violet hatte keinen Zweifel daran. »Ich werde helfen, so gut ich kann«, versprach sie.
Er schwieg eine ganze Weile.
Schließlich sagte er leise: »Ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst.«
Sie versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. »Aber ich muss. Ich muss helfen.«
Patricks Duft wurde stärker. War er näher gekommen? Sie konnte es nicht hören, weil ihr das Blut in den Ohren rauschte.
»War alles nur Verstellung, Violet?«, flüsterte er.
Violets Augen füllten sich mit Tränen, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie spürte seine Körperwärme; er schien direkt vor ihr zu stehen. Sie schüttelte den Kopf: Nein, natürlich nicht.
»Ich dachte, ich wüsste, was du für mich empfindest. Aber jetzt weiß ich gar nichts mehr.«
Violet stemmte sich zitternd aus dem Sessel. Zögernd streckte sie die Hände aus und berührte sein Gesicht. Das letzte Mal, als sie sein Gesicht berührte, hatte sie kurz zuvor ihr Messer aus seiner Brust gezogen. Der Gedanke daran war so schmerzhaft, dass sie ihn sofort wieder verdrängte.
Es spielte keine Rolle, ob er sie hasste oder nicht. Er musste erfahren, was sie für ihn empfand, selbst wenn sie ihr Herz dafür entblößen musste.
Eine Träne rollte über ihre Wange, an Nase und Mundwinkel vorbei, blieb zitternd an ihrem Kinn hängen und tropfte dann auf ihre Brust. Sie beugte sich vor und drückte ihre Lippen auf seine Wange. Er stand reglos vor ihr, tat aber nichts, um sie abzuwehren. Ihre Finger vergruben sich in seinem Haar, ihre Lippen fanden die seinen.
Zunächst reagierte er nicht, dann jedoch stieß er einen Seufzer aus, schlang die Arme um sie und zog sie an sich. Der Geruch nach Blut erfüllte sie, als er sie küsste und seine Zunge in ihren Mund drang. Sie schmiegte sich enger an ihn, wollte ihm alles geben, was sie zu geben hatte und mehr.
»Du sollst es sehen«, flüsterte sie, »mit deinem eigenen Geist. Komm und lies meine Gedanken.«
Violet spürte, wie er sich sanft in ihren Geist schob. Sie öffnete sich. Er sollte sehen, wie sehr sie ihn begehrte, wie sehr er sie erregte. Wie sehr sie ihn liebte.
Ich liebe dich, dachte sie, bitte verzeih, dass ich dir wehgetan habe.
Patrick brach den Kuss ab und hob sie auf seine Arme. Dann ging er mit ihr in sein Schlafzimmer hinauf. Und dort, in der Dunkelheit, zeigte er ihr, dass er sie ebenfalls liebte.